Wenn man die aktuellen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa – und gerade auch in den beiden führenden Nationen der EU, nämlich Deutschland und Frankreich – anschaut, so kommen gewaltige Sorgen auf. Von Optimismus und zielgerichteter Bewältigung der aktuellen Krisen kann nicht die Rede sein.
Der zwar absehbare, aber letztlich doch nicht erwartete Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat insbesondere Europa, aber auch die gesamte westliche Welt jäh aus einer Wohlstandsillusion gerissen. Nach der Lehmann-Krise hatten denkbar niedrige Kapitalmarktzinsen ein Wohlstandszeitalter beflügelt, das durch die Energiekrise und gestörte Lieferketten zum Stillstand gekommen ist. Die Knappheit auf den Energie- und Rohstoffmärkten hat zu sprunghaften Preiserhöhungen geführt und dem folgend auf nahezu allen Gebieten eine lange nicht gekannte Inflation von rund 10% ausgelöst.
Viele Familien am unteren und auch mittleren Ende der Einkommenskala können ihre Lebenshaltungskosten kaum bestreiten. Über allem schwebt die weltweite Klimakrise, die rasend schnell fortschreitet und das Leben auf dieser Erde – zumindest in weiten Regionen – stark negativ beeinflussen oder längerfristig gar unmöglich machen wird.
Bei dieser Ausgangslage ist es nicht verwunderlich, dass es auch in Zentraleuropa zu harten Verteilungskämpfen kommt, deren Schärfe in dieser Form eigentlich vergessen war.
Der deutsche Kanzler hatte vor wenigen Monaten einen Doppelwumms angekündigt. Wenn man die Ergebnisse der jüngsten Koalitionsberatungen heranzieht, so muss man allerdings einen heftigen Rohrkrepierer konstatieren. Von zukunftsweisenden Konzepten ist Deutschland weit entfernt. In den nahezu endlosen Debatten ist eine Richtung nicht nachvollziehbar; die verfassungsmäßige Richtlinienkompetenz des Kanzlers ist nicht erkennbar.
Betrachtet man die Ereignisse der letzten Wochen und Tage, so stellt sich die Frage, ob für die EU nicht eine kritische Inventur der Krisen angezeigt ist – einschließlich einer Beurteilung der Auswirkungen dieser Krisen auf die kurz- und mittelfristige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft.
Sicherlich lohnt auch ein Nachdenken über die längerfristige Perspektive, doch ist hier zu beachten, dass mit der Länge des Prognosezeitraumes die Unsicherheiten immer größer werden. Die grundlegende Situation kann sich durch plötzlich auftretende Ereignisse nennenswert ändern; erwähnt sei nur die jüngste Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas bzw. den Palästinensern insgesamt. Die völkerrechtswidrige Attacke der Hamas hat unmittelbar die Finanzwelt getroffen; die Börsenkurse zeigen überall nach Süden mit Kursabschlägen von bis zu 10% oder mehr. Gold ist als Krisenanlage gefragt wie schon lange nicht mehr.
Auslösender Faktor für eine Krise im Allgemeinen ist in aller Regel ein geopolitisches Ereignis. Daraus folgen dann unmittelbar wirtschaftliche Veränderungen, ja teilweise ökonomische Depressionen. Auffallend ist, dass die Anzahl kriegerischer Auseinandersetzungen in der etablierten Welt weiter zunimmt. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine war hier ein Auslöser; offenbar fühlen sich andere Regime ermutigt, militärische Operationen durchzuführen (siehe z.B. den Konflikt um Bergkarabach) oder aber es wird mit kriegerischer Rhetorik gedroht (siehe China, Taiwan und die Philippinen).
Spätestens seit dem Ukraine-Krieg ist das politische Gleichgewicht zwischen den großen Weltmächten USA einerseits und China andererseits ins Wanken geraten. Die Sowjetunion selbst ist nicht mehr in der ersten Reihe zu nennen, sondern scheint zum Juniorpartner der chinesischen Hegemonialstrategie zu werden. Während China weltweit neue Allianzen schmiedet und das Projekt der Seidenstraße wieder belebt, tun sich Europa und auch Amerika sehr schwer, Gemeinsamkeiten zu unterstreichen und ein festes Bündnis sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu präsentieren. Der jüngste US-EU-Gipfel ist quasi ergebnislos verlaufen.
Die FAS titelte am 10. September 2023, S. 8, dass, „die EU…..an ihren Krisen gewachsen ist“. Auslöser dieser These ist ein Zusammengehen der europäischen Staaten nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges. Die Kommissionspräsidentin von der Leyen hat in dieser Zeit ge-wisse Führungsstärke gezeigt; man geht davon aus, dass sie für eine weitere Amtszeit bestätigt wird. Andere Krisen haben die EU zumindest anfänglich politisch schwach erscheinen lassen. Das gilt im Besonderen für die Corona-Pandemie, als die EU-Staaten ohne Absprache ihre Grenzen schlossen und eine Koordination der Impfstoffproduktion ausgeblieben ist. Gegen Ende der Pandemie haben sich die Staaten dann zusammengerauft und die Kommission hat zum Beispiel den Wiederaufbaufonds mit 750 Milliarden EUR aufgelegt.
Die Not- und Budget- sowie Waffenhilfe für die Ukraine ist ein weiteres Beispiel für ein gelungenes Krisenmanagement. Auch die vorläufige Sicherstellung der Energieversorgung in Europa ist positiv zu nennen. Bleibt nach allem allerdings ein großes Problem: Einigkeit für ein gemeinsames Vorgehen gegen die illegale Migration ist weit und breit nicht zu sehen und die plötzliche Israel-Krise scheint die EU politisch zu spalten und evtl. auch wirtschaftlich zu überfordern. Der Ukraine-Konflikt wird verdrängt, was mittel- und langfristig sehr gefährlich ist.
Gerade die illegale Migration stellt für alle Staaten ein großes Problem dar. Die sog. Pull-Faktoren führen dazu, dass Deutschland letztlich wesentlich mehr frequentiert wird von Migranten als alle anderen EU-Staaten. Zu der illegalen Migration kommt das Problem der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Die große Migrationswelle unter der Regierung Merkel hat die Zustimmungswerte der Regierungsparteien damals dramatisch in den Keller gerissen. Genau diese Entwicklung sieht man heute bei der Ampel-Koalition und der sehr schlechten Beurteilung der Regierungsarbeit unter Kanzler Scholz! Fakt ist, dass es Migration historisch zu allen Zeiten gegeben hat. Die Frage heute ist, ob wir wirklich unsere Grenzen in der Art öffnen müssen, dass die sachliche und finanzielle Ausstattung so gut ausgebaut ist, dass eben alle Menschen in die EU und insbesondere nach Deutschland wollen. Die Mehrheit der Bürger lehnt dies ab!
Parallel zu den vorgenannten Krisen zeigt sich nämlich eine deutliche wirtschaftliche Reduzierung der Leistungsfähigkeit der europäischen Staaten. Die Globalisierung wird in Frage gestellt; die Energieversorgung Europas und insbesondere Deutschlands mit Strom und Gas ist nach wie vor nicht gewährleistet und die Inflation ist trotz nachlassender Prozentzahlen noch lange nicht bewältigt. Zu denken ist beispielsweise an den Anstieg der Versicherungsprämien und Gesundheitskosten sowie an Mauterhöhungen; diese Kosten werden letztlich umgelegt auf die Verbraucher.
Auf jetziger Basis ist für die deutsche Industrie die Energieversorgung viel zu teuer und die Betriebe verlieren im weltweiten Wettbewerb. Der Ruf nach dem Staat wird das Problem nicht lösen. Fakt ist, dass Deutschland große Fehler in der Energie- und Stromversorgung gemacht hat, so zum Beispiel bei der Stilllegung der Atomkraftwerke. Der Wirtschaftsmotor Deutschland stottert ganz gewaltig; entsprechend lau verläuft die wirtschaftliche Entwicklung in ganz Europa. Die Wirtschaft in Amerika hat trotz der republikanischen Krise Europa abge-hängt. Beispielsweise war die US-Wirtschaft im Jahre 2008 um 15% größer als die europäische. Inzwischen beträgt der Abstand jedoch 31%! (Handelsblatt, morning briefing, 1.8.2023). „Wenn die derzeitigen ökonomischen Trends weiterhin anhalten, wird das Wohlstandsgefälle zwischen einem Durchschnittseuropäer und einem Durchschnittsamerikaner im Jahr 2035 genauso groß sein wie zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsinder heute“ (Verhältnis BIP/Kopf 12:1).
Bei dieser Entwicklung muss man sich schon wundern, dass die EU-Kommission und die Mitgliedstatten nicht präziser und konsistenter auf eine Besserung der wirtschaftlichen Rahmendaten hinarbeiten. Die Unternehmen rufen laut nach einem Bürokratieabbau, stattdessen werden sie mit immer weiteren Berichts- und Publizitätspflichten überzogen, sowohl im steuerlichen Bereich als auch in der allgemeinen Produktionswirtschaft. Es ist fraglich, ob die EU gegenüber Firmen und Verbrauchern den Kampf gegen sogenannten „Billigmode“ antreten muss (Stuttgarter Zeitung, 16.08.2023, S. 9). Auch die weitergehende Regulierung digitaler Dienste (siehe RZ vom 4.09.2023, S. 6) wird diese Dienstleistungen nicht verbilligen und die angedrohten Strafen von bis zu 6% vom globalen Umsatz bei Verstößen gegen die Digital-richtlinien werden nicht dazu führen, dass sich solche innovativen Unternehmen in der Union ansiedeln.
Wie kann man nun die hier sicher unvollständige Krisen-Inventur der EU beurteilen? Die geo-politischen Krisen belasten die europäische Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten so stark, dass es in den Mitgliedstaaten zumindest teilweise an Mitteln fehlt, die allgemeinen Aufgaben wie Infrastruktur, Gesundheitswesen und Bildungsangebot sinnvoll umzusetzen. Der Bürger hat den Eindruck, dass die Mittel in Brüssel und in der Bürokratie versickern! Das wird leider die Fliehkräfte zurück zur Nationalstaatlichkeit weiter stärken, was mit Blick nach China, Russland und Indien einerseits sowie die „wackelnde“ USA anderseits mit Sicherheit der falsche Weg ist!
Prof. Dr. W. Edelfried Schneider
Zurück zur NEWS-Übersicht