Kritische Bestandsaufnahme zur Wettbewerbsfähigkeit Europas

Die Präsidentin der EU-Kommission hatte im Sept. 2023 den italienischen Wirtschaftsexperten Mario Draghi beauftragt, eine Studie zur Wettbewerbsfähigkeit Europas durchzuführen. Herausgekommen ist eine umfangreiche Studie über eine Wettbewerbsstrategie für Europa sowie die zehn wichtigsten Industriesektoren mit einem Umfang von rund 470 Seiten. Der Bericht ergänzt den Bericht von Enrico Letta zur Zukunft des Europäischen Binnenmarktes vom April 2023.

Ausgangspunkt der Analyse von M. Draghi ist die Feststellung, dass der Produktivitätszuwachs seit Beginn der 2000er Jahre in Europa dramatisch gesunken ist – insbesondere im Vergleich zu den USA. Pro Kopf ist das verfügbare Einkommen in den USA nahezu zweimal so stark gewachsen wie in Europa. „Wenn die derzeitigen ökonomischen Trends weiterhin anhalten, wird das Wohlstandsgefälle zwischen einem Durchschnittseuropäer und einem Durchschnittsamerikaner im Jahr 2035 genauso groß sein wie zwischen dem Durchschnittseuropäer und dem Durchschnittsinder heute“ (Verhältnis BIP/Kopf 12:1), (Handelsblatt, morning briefing, 1.8.2023).

Während ab ca. 2000 die EU von einem positiven globalen Wirtschaftsumfeld profitierte, kam die große Wende mit dem Russland – Ukraine-Krieg. Die daraufhin steigenden Energiekosten haben die europäische Wirtschaft insgesamt in eine Stagnation und nahezu Rezession gestürzt (z.B. Verhältnis Industrie – Strompreis Deutschland zu USA 4:1).

Hinzu kommt, dass die großen europäischen Unternehmen die digitale Revolution verschlafen haben. Nur vier der TOP 50 TEC-Companies haben ihren Firmensitz in Europa.

Ein weiterer Punkt ist der Rückgang der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Es wird davon ausgegangen, dass bis 2040 die potenzielle Arbeitnehmerschaft in Europa jährlich um 2 Millionen sinkt.

Draghi konstatiert einen sogenannten erheblichen Innovation Gap; der einzige Weg, diese Lücke zu schließen, ist ein nennenswertes Produktivitätswachstum in Europa. Dafür bedarf es eines radikalen Politikwechsels.

  1. Die EU ist in ihrer Politik nicht fokussiert genug. Innovationen werden behindert, weil die Bürokratie in Europa ausufert. Im Zeitraum von 2019 bis heute wurden z.B. in den USA 5.000 neue Gesetze erlassen; in der Europäischen Union 19.000 (FAZ, 09.09.2024).
  2. Europa nutzt auf den globalen Märkten nicht die gemeinsame, erhebliche Einkaufskraft. Vielmehr werden bei öffentlichen Beschaffungen nationale Ziele verfolgt; insbesondere in den notwendigen Verteidigungsausgaben zeigt sich diese Tendenz mit der Folge, dass die Systeme nicht kompatibel sind.
  3. Die Entscheidungsprozesse in der EU sind nicht an die heutige Zeit angepasst worden, auch nicht an die ansteigende Zahl von Mitgliedsstaaten. Der Gesetzgebungsprozess ist zeitlich zu aufwändig und verläuft häufig im Sande, z.B. bei der Vollendung der Kapitalmarktunion oder Verbesserung des Binnenmarktes.

Um die Investitions-Lücke zu schließen, sind erhebliche Investitionen notwendig. Draghi schätzt den jährlichen Investitionsbedarf auf ca. 4.5% des GDP, entsprechend rund 800 Milliarden, zzgl. einer Innovationsförderung von bis zu EUR 200 Mrd..

Während die Analyse von Draghi durchaus zustimmend aufgenommen wurde, kam jedoch alsbald große Ablehnung auf. Draghi hat vorgeschlagen, die notwendigen Ausgaben am Kapitalmarkt durch sogenannte „Gemeinschaftsschulden“ der EU zu finanzieren, was von den Mitgliedsstaaten überwiegend abgelehnt wird, insbesondere von Deutschland. Diese Ablehnung führt dazu, dass die Strategie von Draghi nicht umgesetzt werden kann, weil die EU derzeit über keine eigenen freien Finanzierungsquellen verfügt.